Reisen vs. Fußabdruck: Muss ich die ganze Welt gesehen haben?
Texte: Lena Barković, Lili Oberdörfer, Meltem Yurt, Lisa Raabe
Illustration: Malena Kronschnabl
Prolog & Redaktion: Alexandra Zenleser
31 Grad. Tageshöchsttemperatur. Du streckst deine Füße ins Wasser, lehnst dich zurück und betrachtest das von der Sonne durchdrungene Blau des Himmels.
Reisen. Die menschliche Sehnsucht den Alltag hinter sich zu lassen. Mal durchzuatmen oder in neue Abenteuer aufzubrechen. Na gut, dieses Jahr ist sowieso alles anders, aber wenn man über das Reisen in der heutigen Zeit nachdenkt, werden süße Fernwehgedanken schon einmal mit einer bitteren Note vermischt. Dem eigenen Fußabdruck. Die eigene Rolle wird zum Thema. Man könnte sagen, gut so.
Muss ich die ganze Welt gesehen haben? Lisa Raabe, freiberufliche Texterin und Redakteurin, Meltem Yurt, Werbetexterin und Autorin sowie Gründerin des Onlineblogs Themeltempot, Lili Oberdörfer, Journalistin und Lena Barković, Texterin, alle vier in Stuttgart lebend, haben sich genau diese Frage gestellt. Ehrlich, selbstkritisch, aktuell und sehr persönlich. Dass vielleicht auch wenige, intensive Momente ausreichen und wie jeder einzelne von uns seine ganz persönliche Antwort auf diese Frage finden muss. Vielleicht die beste Lektüre vor der nächsten Urlaubsplanung.
Ein Spaziergang in England – Momentaufnahme von Lena Barković
Hier bin ich also, sitze in meinem Zimmer und habe das Verlangen raus zu gehen und die lebendige Frühlingsluft einzuatmen. Meine Arbeit hier ist soweit erledigt, also nehme ich die Kamera und steige die Treppe herunter. Sie liegt schwer in meiner Hand. Eine Spiegelreflex. Nicht meine eigene, die meines Gastvaters. Aber er hat mir erlaubt, sie auszuleihen.
Als ich aus der Tür trete sauge ich mit meinen Augen den Anblick des Abends ein. Die schwindende Sonne hinterlässt die Welt in einem warmen, glänzenden Zustand. Ich starre die Blutbuche an, die neben unserem monströsen, hässlichen Haus wächst. Das weiche Abendlicht verleiht dem Schwarz der Blätter ein rötliches Glühen. Eine Farbe voll Wärme. Ich mochte den Baum schon immer. Er ist sehr hoch und ist dem Anschein nach sehr alt. Er steht dort schweigsam, aber ich kann das stille Leben in ihm spüren. Ich mag ihn einfach.
Die Blätter winken mir zu, fordern mich auf weiterzugehen. Die Sonne ist kurz vor dem Untergang. Es gibt keine Zeit zu verlieren.
Als ich die kleinen Steinstufen hinuntergehe verstehe ich wie sehr ich diesen Ort liebe. Meine Schritte sind weich. Es ist die Leichtfüßigkeit, die der Frühling mit sich bringt. Eine plötzliche Leichtigkeit des Herzens, die dem Leben so oft fehlt. Ich verwerfe den Gedanken, die Kamera wiegt schwer. Sie ist begierig Bilder dieses schönen Abends aufzunehmen. Ich auch.
Ich lasse meinen Blick über den See schweifen und denke nach. Ist es möglich sich in einen Ort zu verlieben? Ich vermute schon, denn es fühlt sich für mich so an, als ob mein Innerstes mit diesem wunderschönen Stück Erde verbunden ist. Natürlich ist es nicht nur die Natur, die mich fasziniert. Es ist das Gesamterlebnis, das meinen Geist erfüllt – und die Bereitschaft ein Teil davon zu sein. Das ist der Punkt, an dem ich begreife, dass ich hierher gehöre. Alles hier gehört zu mir und ich gehöre zu allem. Mein Herz klopft. Alles fügt sich zusammen. Der See liegt still vor mir und erwartet mich.
Ich komme, Schönheit …
Text: Lena Barković
Herr Er
Eine Kurzgeschichte von Lili Oberdörfer
Er ist auf der Mission die Umwelt zu retten. Im Urlaub säubert er nachts die Strände, fährt ausschließlich Fahrrad und studiert Biologie. Er ist sich bewusst über die Verschmutzung, die der Mensch täglich einer Erde zumutet, die er die seine nennt. So ein Mensch will er nicht sein. Klein wie Ameisen sind wir, denkt er sich. Unbedeutend. Wie gut, dass er das erkannt hat, denn jetzt sieht er das große Bild, hat Weitsicht, und es fühlt sich gut an. Er ist erleuchtet. Er gibt gerne Tipps, trotzdem versucht er die Kleingeister und ihre Freude im Mallorca-Urlaub nicht zu verurteilen. Den enormen Schaden, welcher bereits ein kurzer Flug der Erde zufügt, bereitet ihm trotzdem Bauchschmerzen. Er wird oft als Moralapostel dargestellt, dabei verstehen sie es einfach nicht, denn er tut das ja auch für sie.
Er verzichtet für sie. Er leidet für sie. Er steht schlecht da für sie. Die anderen. Sie werden getrieben von ihrem Ego, sie leben im Jetzt, leben vom Spaß und dem kurzen Glück. Sie sind oberflächlich. Aber er arbeitet auf das langfristige Glück hin, etwas das währen wird. Und es fühlt sich doch auch gut an, oder? Ja, das tut es, denkt er: Es fühlt sich hervorragend an, ein Vorreiter zu sein.
Aber in letzter Zeit spürt er eine Veränderung. In ihm regt sich des Öfteren etwas Hässliches. Er findet, es ist das Hässlichste was er je wahrgenommen hat. Anfangs hörte er nur ein tiefes entferntes Grunzen, mittlerweile kitzelt ihn der feuchte Atem des Ungestüms in seinem Nacken. Ausgelöst wurde es durch den Duft der Sonnencreme, der aus einem Reisebüro in seine Richtung zog, als er gestern die Straße überquerte. Da dachte er sich schon, was für eine Propaganda, wie egomanisch überhaupt ein Flugzeug nur zu betreten! Schon so lange verzichtet er auf Flugreisen, über die Schäden, die diese anrichten, könnte er einen Vortrag halten – was er auch tut. Aber dieser Duft, der hat ihn umgehauen. Seitdem kriecht er durch seinen Körper, und bringt ihn damit zur Weißglut. Überall riecht er Kokos und Sonne. Eines Morgens raunzt das Ungestüm ihm ein Wort in sein Ohr, das er so noch nie gehört hat. Tod, der Tod. Er kennt das Wort nicht, dessen Bedeutung umso weniger. Umso genervter ist er von dem Monster, das nicht mehr von seiner Seite weicht. Er entscheidet sich das Wort „klimaneutral“ zu googeln. Und was er dann sieht, kann er beinahe nicht glauben.
Er ist entgeistert, welch Dreistigkeit dies jetzt erst zu erfahren! Er erfährt von dem Tod, und davon, dass die eigene Zeit begrenzt ist. Dass Klimakatastrophen die Menschheit auslöschen, das klang für ihn immer nach einer unrealistischen Apokalypse. Und jetzt erfährt er das Menschen einfach so sterben?
Er fühlt sich betrogen, wieso hat ihm niemand davon erzählt? Es schüttelt ihn bis ins Mark. All die Arbeit, die er für die Zukunft getan hat, er wird sie nicht erleben können. Wenn er das nur gewusst hätte. Das ändert alles. Er hat das Schöne nach hinten geschoben. Er dachte, er habe unendlich viel Zeit die Früchte seiner Arbeit zu genießen. Kinder zu bekommen, die dann heile Welt zu bereisen, zu essen, zu schlemmen, zu lieben … So dachte er zumindest. Er fühlt sich betrogen von einer Welt, die ihn nicht eingeweiht hat. Er hat eine Entscheidung zu treffen.
Heute ist er Pilot, umrundet den Erdball täglich, um der Menschheit, die ihn so lange nicht eingeweiht hat, eins auszuwischen. Und so fliegt er die Menschen von Kontinent zu Kontinent, und beobachtet den langsamen Zerfall der Erde von oben.
Sie sieht so schön aus findet er.
Text: Lili Oberdörfer
Komm. Mach schnell. Pack deine sieben Sachen. Wir fliegen nach Wien für 12,99 Euro. Oder nehmen den Billigflieger nach Barcelona. Oder nein, lass nach Thailand reisen. Wir sind jung und die drei Zwischenstopps in Berlin, Brüssel und Abu Dhabi schlucken wir wie Sekt mit O-Saft, das wäre doch gelacht. Ja, das Reisen ist nicht mehr Luxusgut der oberen Klasse, sondern ein Lebensgefühl für die breite Masse. Flüge kosten mittlerweile gefühlt so viel wie gutes Olivenöl im Supermarkt und die Angebote an Möglichkeiten laden zum Expeditionsrausch ein: Aktive Vulkane in Chile oder biolumineszente Buchten in Puerto Rico? Ein Eishotel in Schweden oder doch lieber eine Soiree am pinken See in Australien? Bungalow oder Hausboot? Hoch in den Lüften oder tief unter Wasser? Such es dir aus, Amigo. Der Geldbeutel ist das Limit.
Im Reiserausch durch die Welt
Reisen ist herrlich. Jeder sollte reisen. Wenn du wirklich gebildet sein willst, solltest du wenigstens schon 12 Länder gesehen haben. Das Reisen ist wie eine Lebensausbildung geworden: Je mehr du siehst, desto mehr SIEHST du, je öfter du dich mit fremden Kulturen auseinandersetzt, desto offener wirst du der Welt gegenüber. Es ist wahr. Wenige Weltenbummler beschäftigen sich damit, ob ihre Hosen gebügelt sind oder nicht. Sie sind frei, unbelastet. So wie die Darsteller in den Schokoladenwerbungen.
Eine Vielreisende zu sein war immer das Optimum für mich. Mit Fleiß habe ich bisher 35 Länder besucht und bin stolz auf das Sammelsurium an Erlebnissen, das mich dabei fürs Leben geprägt hat. Wie viel CO2 dabei flöten ging? Keinen blassen Schimmer. Wenn es einen Flug für 35 Euro nach Rom gab, dann hieß es: Benvenuto a Roma.
Die Welt aber ruft schon seit längerer Zeit: „Basta, basta!“ Diesem Ruf entgegnete ich mit Semi-Interesse und ich schäme mich für meinen naiven Gedanken, dass ich als Einzelperson keinen Unterschied anrichten könne. Was für ein RTL2-Denken. Ich weiß, ich bin hier nicht die Einzige.
Eine merkwürdige Erkenntnis
Wir kämpfen mit einer Doppelmoral. Auf der einen Seite machen wir uns Sorgen um die Welt und wollen unseren Kindern eine bessere Zukunft garantieren. Auf der anderen Seite stürzen wir uns auf Skyscanner-Angebote wie ausgehungerte Hyänen, weil Reisen einfach dazugehört und eines der geilsten Dinge der Welt ist. Es ist wie eine Diät. Wir halten an der Aussicht auf eine Traumfigur fest und drücken uns im gleichen Moment Mayonnaise aus der Tube in den Mund. Dagegen anzukämpfen ist schwierig, wenn es anders so viel angenehmer ist.
Wenn die Welt stillsteht
Und dann plötzlich ändert sich alles. Ein mysteriöser Virus zieht uns einen Strich durch die Rechnung. Fast wie ein Würgereiz, der sich mitten beim Feiern breitmacht. Zum Kotzen, gerade wo‘s so lustig wird. Wir sind wütend und fühlen uns unserer Freiheit, unseres Spaßes beraubt. COVID ist so ein Arschloch. Durch ihn fallen alle Reiseplanungen für dieses Jahr flach. Wir Deutsche sind bezüglich unserer Ausgaben die reisegeilste Nation, gefolgt von den USA und Großbritannien. Und jetzt? Bali mit Schatzi, Ade. Malle mit den Boys, Goodbye. Jetzt müssen wir zuhause sitzen und uns mit dem beschäftigen, was unser Land uns zu bieten hat. Wie bescheuert ist das?
Aber Moment. Wittern wir hier eine Chance? Ist diese Atempause für uns – und für unsere Atmosphäre – vielleicht gar nicht so schlecht? Es ist wie in dem Moment beim Feiern, wenn wir neben der Kloschüssel sitzen und uns fragen: Will mir mein Körper gerade irgendetwas sagen?
Ja, der Körper will uns in dem Moment etwas sagen. Und genauso will der Kosmos uns etwas sagen. Wir sind also jetzt das Kind, das auf die Fresse geflogen ist. Es darf nicht mehr reisen gehen! All seine Flüge sind storniert worden! Zuerst zappelt es vor Wut, schreit und weint. Aber irgendwann beruhigt es sich. Es gibt nämlich noch andere Spielzeuge – und zwar in unmittelbarer Nähe.
Bali-Feeling in Bayern
Natürlich ist es viel cooler, Fotos an einer Strandbar auf Bali zu schießen und mit all seinen Freunden zu teilen. Aber am Ende des Tages geht es doch um das Gefühl dabei, oder nicht? Wir könnten diese interessanten Zeiten, in denen wir uns gerade befinden, dazu nutzen, das GEFÜHL zu leben. Nur ohne dabei die Gefühle unserer Welt zu verletzen. Die ist nämlich offensichtlich stinkig.
Und wenn wir genau hinhorchen, sind diese großartigen Reisegefühle oft nur eine Zugfahrt entfernt: Der Tibumana Wasserfall auf Bali gleicht täuschend den Buchenegger Wasserfällen in Bayern. Wer sich nach den Everglades sehnt, kann einfach mal eine Kanu-Tour durch die Gewässer des Spreewalds unternehmen. Sträubst du dich gegen Urlaub im Inland, dann surfe auf überwältigenden Wellen im französischen Hossegor wie auf Hawaii. Oder schwimm im Lago di Braies in Italien – dem Zwilling des Morraine Lakes in Kanada. Es kann so einfach sein. Und doch Berge bewegen.
Ein Beispiel, das den Unterschied verdeutlicht: Wenn du mit dem Zug von Berlin nach Prag reist, stößt du 8,3 Kilogramm CO2 aus. Mit dem Auto sind es 54,8 Kilo – und mit dem Flugzeug 107,9 Kilo. Für die Beispielzahlen sind mehrere Grundannahmen herangezogen worden, bei der Bahn etwa eine durchschnittliche Auslastung, bei Anreise auf der Straße ein Mittelklasse-Pkw mit Euro-5-Diesel.
Danke, dass ihr eure Ärsche zuhause lasst
Ja, für Reiseliebende – mich inklusive – sind solche Alternativen auf den ersten Blick wie Fake-Pflanzen: Sehen super aus aber riechen nach Plastik (ironischerweise). Vielleicht wird es Zeit, den Egoismus ein wenig herunterzuschrauben. So wie es durch COVID-19 erzwungen wird.
Wir malen uns im Gedanken aus, wie wir Fußabdrücke im Sand hinterlassen, während im Hintergrund das Meer rauscht. Wir sind so traurig. Was aber ist mit unseren Fußabdrücken auf dieser Erde? Wird sich uns je wieder so eine Gelegenheit zur Erkenntnis bieten?
Delfine in den klaren Kanälen Venedigs, zwitschernde Vögel am Times Square in New York City oder saubere Luft in chinesischen Smog-Städten wie Shanghai. Mutter Natur sagt uns auf diese Weise: Danke, dass ihr eure Ärsche zuhause lasst.
Text: Meltem Yurt
Die Welt, das Konsumobjekt
Es ist viel zu einfach, über die positiven Seiten des Reisens zu schreiben – die sind so offensichtlich. Denn leider ist es nun mal so: Alles, das extrem schöne Seiten hat, hat auch extrem hässliche.
„10 Orte, die du in deinem Leben gesehen haben solltest.” Es gibt ungefähr eine Million Artikel, die mir empfehlen, bestimmte Orte mit eigenen Augen gesehen zu haben. Aber: Muss ich reisen? Muss ich die ganze Welt mit eigenen Augen gesehen haben? Die Frage ist: Wer fragt denn hier? Aus wessen Sicht muss ich müssen? Aus meiner? Aus der Sicht der Gesellschaft? Aus Sicht der Reiseveranstalter?
Das letzte große Abenteuer.
Reisen ist das letzte große Abenteuer, das uns noch geblieben ist. Da wartet sie, die absolute Freiheit! Dafür müssen wir schon woanders hinfahren, hier können wir nicht frei sein. Also fahren wir weg. Und kommen wieder. Und fahren wieder weg. Und so weiter. Reisen ist kein Abenteuer mehr, es ist normal geworden. So normal, dass es für viele undenkbar ist, ihren Sommerurlaub zu Hause zu verbringen. (Es sei denn, es herrscht gerade eine Pandemie.) Es gibt ja auch gute Gründe, die fürs Reisen sprechen: Sie weiten das Blickfeld und zeigen, was möglich ist auf dieser Welt. Sie zeigen, dass unsere Art zu leben nicht die einzige ist. Dass Normalität subjektiv ist. Reisen erinnern uns daran, dass die Welt mehr als ein Kessel voll Spätzle ist. Aber gehört der jährliche Urlaub dazu? Oder reden wir uns das nur ein? Wenn ja, würde das bedeuten, dass alle, die keine Möglichkeit zum Verreisen haben, sei es aus monetären oder gesundheitlichen Gründen, zu einem Dasein zweiter Klasse verdammt sind. Das will ich nicht glauben.
Scheiß Touris.
Es ist magisch, den Tempel Tanah Lot bei Sonnenuntergang auf Bali zu sehen, diesen vom Meer umspülten Felsen, der nur, wenn Ebbe herrscht, zu Fuß erreichbar ist. Die Schönheit der Natur zu bestaunen und die rot-schwarz gefleckten, ebenfalls heiligen Schlangen zu berühren. Es ist toll, solange man den Blick ganz fest auf den Tempel richtet und nicht nach links und rechts blickt. Denn dann sieht man die unzähligen anderen Menschen, mit denen man dicht an dicht gedrängt steht. Die Mittouristen zerstören die Atmosphäre, aber nur die anderen, keinesfalls wir selbst. Wir tun ja gar nichts Böses, stehen nur ein bisschen rum. Die anderen sind es, die unser Reiseerlebnis eindämpfen. Als aufgeklärter und kritisch denkender Tourist hat man gefälligst andere Touristen zu meiden, denn Tourist möchte man nicht sein. Man ist Reisender.
Wer reist, ist Teil des Problems.
Wir reisen in die Ferne auf der Suche nach der Welt, wie sie ist. Bei so vielen, letztes Jahr waren es 1,5 Milliarden Touristen weltweit, kann die Welt, die wir heute serviert bekommen, gar nicht mehr real sein. Wie auch? Wir sehen nicht die Welt, wie sie ist, sondern wie sie für uns Touristen aufbereitet wurde. Wir sehen nicht mehr das „authentische” Bali, sondern ein für Menschenmassen durchorganisiertes Erlebniscenter. Das echte Bali findet woanders statt, hinter den Kulissen. Wenn es das überhaupt noch gibt – sicher bin ich mir da nicht.
Also dringen wir weiter vor. Wir möchten da essen, wo die Locals essen, da tanzen, wo die Locals tanzen. Nur: Es ist ein Trugschluss, davon auszugehen, dass man der oder die Einzige mit diesem Wunsch ist. Und so zwingen wir uns der Welt auf und drängen sie immer weiter zurück. Wir zerstören, was wir lieben, weil wir es unbedingt mit eigenen Augen gesehen haben wollen. Als könnten wir es dadurch besitzen.
Stell’ dir vor, du wohnst im Paradies und plötzlich wird dein Zuhause der nächste Urlaubsgeheimtipp. Plötzlich stehen fremde Menschen in deinem Vorgarten und verlangen nach Exotik, aber bitte nur ein bisschen. Auf Bali gibt’s Pizza, weil es Touristen gibt, die nicht in der Lage sind, sich für ein paar Wochen auf eine neue Welt einzulassen. Ich möchte nicht so sein, wie sie. Die Pizza habe ich aber auch gegessen. Jeder, der reist, ist irgendwo Teil des Problems. Aber das Schöne ist ja, dass dadurch jeder Teil der Lösung ist.
Kapitalismus trifft Kolonialismus.
Ich bin heilfroh, dass Stuttgart keine Touristenattraktion ist. Nur 2 Millionen Touristen kamenletztes Jahr nach Stuttgart. Davon vermutlich die Hälfte wegen des Festivals der Kotze, das zweimal pro Jahr in Bad Cannstatt wütet.
Die Mallorquiner, das hat man schon öfter gehört, sind keine Fans der Deutschen. Weil sie zu viele von uns kennen. Je mehr, desto besser, sollte man meinen. Wachstum ist schließlich die Religion unserer Zeit. Man darf nicht vergessen, dass die Tourismusbranche, wie jede andere Branche auch, auf Wachstum ausgerichtet ist. Reisen werden uns verkauft, sie sind Produkte. Sie gelten als Investition in sich selbst, man wird angeblich zu einem gebildeteren, interessanteren Menschen, wenn man Weltenbummler ist. Und wir glauben das gerne, weil es in unser Weltbild passt. It’s a lifestyle!
Will ich Teil einer ungeliebten Masse sein? Nein. Aber ich will auch nicht so ignorant sein, zu denken, dass ich einen super individuellen Urlaub machen und dafür in Bereiche eindringen darf, die vor dem Tourismus geschützt werden sollten. Wie viele Balinesen beten noch in Tanah Lot? Warum trennen wir das Kulturgut von der Kultur, die es erbaut hat? Mit welchem Recht eignen wir uns die Lebensräume anderer an? Wir tun das mit einer solchen Selbstverständlichkeit, als schlummere immer noch ein Kolonialherr in uns.
Glauben wir wirklich, dass sich der Rest der Welt darüber freut, wenn wir in ihrem Zuhause einfallen und es so verändern, dass es unseren Trends entspricht? Und glauben wir wirklich, dass das Geld, das wir dort lassen, unser Verhalten legitimiert? Können wir uns von unserer Verantwortung als Reisende freikaufen?
Gleichzeitig bin ich als Tourist an vielen Orten der Welt die wichtigste Einkommensquelle geworden. Na klar wollen Einheimische mit mir Geld verdienen. Ihnen bleibt ja nichts anderes übrig.
Reisen ist Müll.
Im sehr lesenswerten Interview mit dem Historiker Valentin Groebner erfährt man Interessantes über die Entwicklung des Reisens. Unter anderem auch, dass das Reisen, so wie wir es kennen, nicht älter ist als 70 Jahre. 70 Jahre! Es ist schon beeindruckend, wie viel wir in der kurzen Zeit zerstört haben. Man muss nur die Begriffe „Bali” und „Müll” googlen – die Bilder machen traurig.
Reisen zerstört die Umwelt. Flugreisen sind mit das Schlimmste, was man machen kann. Ein ökologisches Verbrechen, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Unsere Umweltschädigung hört ja mit dem Verlassen des Flughafens nicht auf. Vor Ort produzieren wir tonnenweise Plastik. Hotels verbrauchen Wasser, das woanders fehlt. Der Preis, die Welt zu bereisen ist, dass wir sie zerstören.
Sollen wir jetzt alle nicht mehr reisen? Das ist weder wünschenswert noch möglich. Ich möchte ja selbst nicht darauf verzichten Meine Reisen haben mich wirklich zu einem offeneren Menschen gemacht und mir die allerschönsten Erinnerungen beschert. Dennoch müssen wir unsere Art zu reisen neu denken, denn wir sind alle mitverantwortlich dafür, damit es auch zukünftig möglich ist.
Vielleicht fragt sich jeder einfach mal: Warum reise ich? Was gibt es mir? Was erhoffe ich mir davon? Reise ich bewusst? Denke ich, dass ich einen Anspruch darauf habe? Wenn ja, warum? Kann ich mein Reiseverhalten vielleicht ändern? Fahre ich nicht mehr jedes Jahr weg, sondern alle zwei bis drei Jahre, aber dafür länger? Buche ich nur noch grüne Hotels? Verzichte ich auf Fleisch und reise dafür? Wer weiß, vielleicht stößt man dabei ja auf Antworten. Jeder darf seine eigenen finden.
Text: Lisa Raabe