Alleine oder zusammen? Welchen Stellenwert hat Gemeinschaft in unserer Gesellschaft?
Texte: Lilith Heidt, Rainer Brenner, Philip M. Stoeckenius
Illustration: Malena Kronschnabl
Prolog: Matthias Straub
Redaktion: Alexandra Zenleser
Status: It’s complicated. Wird es immer schwieriger, sich an einen oder mehrere Menschen zu binden? Jetzt wo wir analogen Lebewesen mehr denn je digitale Einblicke bekommen, wie wir als Menschen zu funktionieren haben, aussehen müssen und welchen Lebensentwurf es zu favorisieren gilt? Dank Instagram, Tinder, LinkedIn und Co. gelingt es uns immer besser, in Online-Inszenierungen sehr werbewirksam zu existieren – was es immer schwieriger macht, diese Projektionen mit den Lebensentwürfen anderer Menschen zu synchronisieren. Das gilt sowohl für Beziehungen im Sinne fester Partnerschaften als auch für Lebens- und Arbeitsgemeinschaften.
Aber ist es vielleicht nicht sogar viel effizienter innerhalb des selbst geschaffenen Kosmos mithilfe unzähligen Tools Projekte zu realisieren? Ist es anachronistisch in Gemeinschaften zu denken, zu leben und zu arbeiten? Möglichweise sind wir noch von der romantischen Vorstellung beseelt, dass Ergebnisse stets besser geraten, wenn unterschiedlicher Input und Inspiration, Ansichten, Fähigkeiten und ein echter Austausch zusammenkommen? Hilft, schadet, beschleunigt oder verhindert Diskurs den Prozess?
Rainer Brenner, freier Redakteur, Autor und Herausgeber aus Zürich, die in Stuttgart lebende Referentin Lilith Heidt und Philip Maria Stoeckenius, Autor, DJ und Lyriker, haben aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht, welchen Stellenwert „Gemeinschaft“ heute hat. Dabei bleibt die Frage, ob wir die Bedeutung des Kollektivs überbewerten oder ob nicht vielleicht doch das gemeinsame Lösen alltäglicher und außergewöhnlicher Aufgaben gleichermaßen zielführend wie sinnstiftend ist.
Wir sind, weil ihr da seid
Man könnte meinen, dass in unserer Zeit die Selbstdarstellung fast zur Religion erhoben wird. Jeder möchte von seiner Umgebung so schön, intelligent und qualifiziert wie möglich wahrgenommen werden.
All the worlds a stage and all the men and women merely players…
(William Shakespeare)Zugegebenermaßen, es gibt natürlich noch einige Unterschiede zwischen der Theaterbühne und der Bühne des Lebens. Schließlich wissen die Schauspieler normalerweise, dass sie nur spielen.
Ist das Leben eine Bühne? Unsere Bühne?
Aber es gibt im Alltag kein „exklusives“ Publikum. Jeder Beobachter ist gleichzeitig auch ein Performer. Vereint auf der Bühne des Daseins beobachten und beurteilen wir die Handlungen unserer Mitmenschen und werden von ihnen wiederum interpretiert und bewertet. Das Spiel des Lebens ist ein kunstvoll arrangiertes Korbgeflecht aus vielen Rollen, Anforderungen und Möglichkeiten. Jeder muss sich daher täglich neu definieren und vor allem sich selbst neu darstellen. Nun denn, willkommen im Showroom des Seins, in dem man sich nur befindet, wenn man so tut, als wäre man es.
„To play or to be played“. Das ist die Frage.
Die Forderung: nichts anderes, als uns selbst zum Erzähler unserer eigenen Geschichte zu machen. Genrewechsel inklusive. Manchmal ähnelt unsere Lebensgeschichte eher einer Liebesgeschichte, manchmal erscheint sie wie ein Epos des Abenteuers. Ein Mensch: ein Spiegelbild, gebunden und verbunden durch die Fäden der sozialen Netzwerke.
Text: Lilith Heidt
The Artless Artist
Ich kenne einen Künstler. Den größten Künstler aller Zeiten. Denn ich habe nie etwas von ihm gesehen. Sein Werdegang begann nicht an einer Kunstschule. Auch nicht in einer coolen WG in irgendeiner angesagten Stadt oder an einem bitterarmen Ort in der Wüste. Ich habe eigentlich keine Ahnung, wo genau alles begann. Aber ich weiß, dass er gerne Sport trieb. Keinen Leistungssport, keine Medaillen, keine Artikel in der Zeitung. Einfach nur Bewegung, die seinen Körper mit Leben füllte.
Und er mochte Musik. Nicht die, die man hört, sondern diejenige, die ihm selbst gehörte. Nie in seinem Leben wäre es ihm in den Sinn gekommen, die Lieder anderer zu hören oder nachzuspielen. Warum auch? Er trug schließlich auch nicht ihre Kleider oder wohnte in ihren Häusern.
Wenn schon, dann suchte er in fremden Klängen nach Dingen, die zu seiner eigenen Musik passten. Wie in einem Bauwarengeschäft bewegte er sich durch die Musik anderer, um Werkzeuge, Befestigungen, Rahmen oder Kitt für seine eigenen Ideen zu finden. Ihm selbst gefiel seine Musik in manchen Wochen unglaublich gut. So gut, dass er sie fast selber nachgespielt hätte, um dazu zu tanzen – ein Begehren, das ihn ein Leben lang begleiten würde. Anfangs war er glücklicherweise zu faul dazu, später zu motiviert und noch später von einer tiefen Überzeugung geprägt.
Ich werde noch viel von ihm erzählen. Also geben wir ihm einen Namen. Niro vielleicht, denn so heißt bestimmt niemand, den Sie kennen. Trotzdem ähnelt der Name irgendwelchen bekannten Gesichtern und Charakteren. Und von genau so einer Person ist die Rede.
Niro diskutierte gerne. Am liebsten mit seinem Freund Dand. Von manchen Leuten wurde ihm vorgeworfen, er diskutiere eigentlich nur mit sich selbst. Denn wenn ihm eine Idee gefiel, so vertrat er sie nicht nur gegenüber seinen Gesprächspartnern, sondern auch gegenüber sich selbst. Er blickte ihnen zwar in die Augen, lachte, regte sich auf, trank und stammelte – aber eigentlich war er dabei meist ganz bei sich.
Dennoch: Er war kein einsamer Mensch. Und auch kein stiller Denker. Im Gegenteil, er liebte die Menschen um sich herum – seine Familie, Freunde, Menschen bei der Arbeit oder auf der Straße. Und er mochte Kunst. Nicht in Museen, nicht in Form von Bildern und Statuen. Sondern als Erlebnisse, Performances und unerwartete Begegnungen um ihn herum.
In seinem Smartphone, auf Zetteln und auf seinem Computer sammelte er Ideen für solche Kunst. Nachts, wenn seine Freundin schlief, lag er im Schein des Handybildschirms wach und blätterte mit dem Daumen durch die digitalen Seiten, träumte davon, diese Ideen irgendwann umzusetzen.
Dabei skizzierte Niro in seinem Kopf große Blätter mit Notizen. Wie die Profiler aus den Krimi-Filmen versuchte er sie miteinander in Verbindung zu bringen. Doch das funktioniert so nicht. Manche seiner Notizen waren nämlich voller Emotion und Farbe, andere hingegen handwerkliche Meisterstücke. Wieder andere bestanden aus den Menschen selbst oder waren gebaut aus Tiergelenken, unbekannten Wesen oder ganz und gar gasförmig. So scheiterten die größten, spannendsten, schönsten und bedeutendsten Werke in unendlicher Realität und zergingen in seinem Kopf, noch bevor er sie zu Ende gedacht hatte.
Und genau dieses Drama war der Beginn seiner eigentlichen Karriere. Was hinderte ihn wirklich daran, die Ideen zu Ende zu denken? Sie als multidimensionale, erlebbare, unendlich veränderliche und unbeschreibliche innere Wahrnehmung einem einzigen Zuschauer zu öffnen – nämlich sich selbst? Abgekoppelt von Realität, Plan und Umsetzbarkeit lag ihm eine Welt zu Füßen, welche sich an keinerlei Regeln zu halten hätte.
Anfangs erzählte er seinen Freunden davon. Mit der Zeit interessierte ihn das immer weniger. Im Gegenteil: Er versuchte beinahe, seine künstlerischen Spuren im Hier und Jetzt, die er auf Zetteln und in Dateien hinterlassen hatte, zu vernichten. Doch es tat weh. Und es war schwer, das Geheimnis ganz alleine zu tragen. Ganz ohne Bestätigung und Ruhm ein künstlerisches Einsiedlerdasein zu führen – ohne Vermächtnis, ohne Beweise. Darum sprach er darüber mit Dand. Nicht über die Werke an sich oder darüber, wie er sie gemacht hatte, denn dazu fehlte ihm das Vokabular und der nötige Intellekt. Sondern einfach von seiner Idee des neuen Künstlers, dessen Kunst sich nie auf der Schwerkraft der Erde beweisen muss, sich keinerlei Regeln unterwirft und keine Referenz als nur ihren Erschaffer kennt. Dand fand das zwar interessant. Aber er sang «Abenteuerland» von Pur. Und das nervte Niro.
Er schenkte sich sein Glas bis obenhin mit Wein voll und machte Witze über seine eigenen Ideen. Dand merkte das und es tat ihm leid. Also sprach er ihn immer wieder mal wohlwollend darauf an, versuchte sich für die Idee zu begeistern. Doch Niro blieb bei den Witzen und dem Wein und wirkte glücklich dabei.
Es existiert also eine Chance, dass Niro die grossartigste Kunst erschaffen hat, die die Menschheit je hervorgebracht hat – ohne dass jemals jemand davon erfahren würde. Man wird ihm zumindest nie etwas anderes beweisen können. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr begeistere ich mich selbst für diese Vorstellung, mit dem bedeutendsten Künstler aller Zeiten befreundet zu sein. Ich mache ihn größer und größer, stelle mir vor, was Niro im Laufe der Zeit gesehen, erlebt und skizziert hat. Worüber er nachdachte, als er um seine Entwürfe kreiste. Daraus ergibt sich wiederum eine neue Parallelwelt zu Niros Dimension – und das Gesamtkonstrukt gewinnt an Größe.
Anders als Niro will ich nicht einfach Fan bleiben. Ich brauche Publikum. Menschen, die mit mir über meine Ideen und Arbeit sprechen. Oder alles abtun und Witze reißen. Und ich möchte ihn erlösen von seinem Einsiedlerdasein, ohne dass er dafür die Regeln zu brechen braucht, die seine Kunst bestimmen. Ich denke das ist alles, was er sich all die Zeit über von mir wünschte.
Dand
Text: Rainer Brenner
Gemeinschaft Ein Ausflug
Ich habe verlernt mit Menschen in einer Gemeinschaft zu leben? Diese Behauptung. Eine Frechheit. Man zwingt mich ja nicht während Zusammenkünften nicht zum funktionellen Denken. E=mc2 2 2 ^2 Welche Ziele2 hat meine Anwesenheit? Wer schafft als nächstes die Strukturen, an die wir uns halten? […] Macht es einen Unterscheid, ob Du mir nur das Bild zeigst, das Du von Dir zeigen willst. <img src=“https://musikwissenschaft.univie.ac.at/fileadmin/_processed_/ csm_DSC_0001_e273e8d765.jpg“>
Ich fühle mich wohler, wenn Du heute zuhause bleibst? Wir kennen uns ja jetzt – das reicht! Deine Geographie ist ja auch meine. Schön Dich zu sehen! Wie geht’s? […] Deine Gegenwart aber nicht. Dieser Voyeurismus kotzt mich an. In deinem Pass, den Dir Deine Nation, ausgestellt hat, steht „24,3k Follower*innen“ – wenigstens das. In nächster Zeit fliege ich nicht. Ich bin ein ungeselliger Geselle (Kant). Ich zitiere nicht mehr, ich habe Meinungen, die wichtiger sind als Deine Wissenschaft. Doch das glaubst Du mir nicht, stimmt’s? Ich glaube Dir ja auch nicht.
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Text: Philip M. Stoeckenius