Thomas Sing, 1979 geboren, arbeitet als Fotograf und Künstler in verschiedenen Studios in Italien und Deutschland. Seine Leitmotive, die die meisten seiner Arbeiten beeinflussen, führen auf Schuld, Schmerz, Sünde – und die Erlösung von alledem zurück. Man könnte also vermuten, dass Sing seine katholische Erziehung künstlerisch verarbeitet. Doch das ist sicherlich nur teilweise eine nachvollziehbare Herleitung zu seinen verträumt schönen, ästhetisch hochwertigen und handwerklich vollkommenen Arbeiten, die uns durch ein fein ausbalanciertes Verhältnis von Tabu und Tabubruch in ihren Bann ziehen.
Wann und wie kam dir die Idee zu dem Buch „Until I Break“?
Die konkrete Idee dazu kam 2016, ein Jahr vor Veröffentlichung des Buches, als ich durch einen Zufall die perfekte Protagonistin für Until I Break fand und nach einigen Testaufnahmen klar war, dass das mehr als eine kleine Fotostrecke werden musste.
Allerdings trug ich die anfangs diffuse Vorstellung, die Themenkomplexe Spiritualität / Religion und Erotik /Sexualität fotografisch zu überlagern, schon seit Jahren mit mir herum, hab mich da aber nie so recht hingetraut. Das Risiko ist enorm, dass man da ganz schnell entweder ins Klischeehafte fällt oder dass es so verkopft wird, dass am Ende niemand mehr mitkommt. Oder dass es eben ironisch wird, weil man zwanghaft versucht, originell zu sein.
Letztlich wollte ich ein poetisches Buch machen, das eine ‚Innere Erfahrung‘ rekonstruiert, die ich seit meiner Kindheit immer wieder bei bestimmten Stellen in Büchern oder Filmen, oder ganz generell mit Kunstwerken gemacht habe: wenn man sich so sehr mit einer Figur identifiziert dass einem kurz schwarz vor Augen wird und man so etwas wie eine Identitätskrise erfährt. In einem der kurzen Texte in Until I Break geht es genau darum. De Sades Justine etwa ist so ein Fall, der mich seit Jahrzehnten nicht loslässt. Oder die Protagonistin Joe in Lars von Triers Nymphomaniac (2014), die in diesem unpersönlichen Keller immer wieder den jungen Sadisten K aufsucht und sich von ihm züchtigen und erniedrigen lässt. Da gibt es diese Szene, in der er sie über dieses abgewetzte Ledersofa legt, fesselt und ziemlich derb verprügelt. Das zieht mich in einen Abgrund hinein, in dem ich nur noch sie sein möchte für ein paar Herzschläge lang, und dann fast melancholisch wieder auftauche, weil ich es nicht sein kann. Als ich Nymphomaniac zum ersten mal gesehen habe, wollte ich in Dauerschleife an Joes Stelle sein, wie in einem defekten Abspielgerät, immer auf ‚repeat‘. Witziger Weise passiert mir das immer nur bei Frauenfiguren. Wahrscheinlich ist genau das mein Antrieb, Kunst zu machen. Insofern hat Unitl I Break viel Autobiographisches.
Was fasziniert dich an Schmerz, (Un-)Gehorsam und (Un-)Zucht am meisten?
Diese Begriffe decken ja ein ganz weites Feld ab, das erstreckt sich in die Anthropologie, die Philosophie, die Soziologie, die Sexualität und kann nicht zuletzt extrem politisch werden. Ich fasse das einfach mal unter ‚Selbstpraktiken‘ zusammen, denn das Wort ist neutral und trifft sowohl auf erotische bzw. BDSM-Praktiken zu, also auch etwa auf religiöse Praktiken. Der Unterschied ist da auch oft nicht so groß, die Sexualpsychologie der Moderne verfehlt die Bedeutung von sadomasochistischen Praktiken fulminant, wenn sie diese zu extravaganten Mitteln reduziert, zum Orgasmus zu kommen. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen dass das eine mit dem anderen überhaupt nichts zu tun hat. Da ist die Nähe zu – im weitesten Sinn – spirituellen Praktiken der (Selbst-)Verletzung und des freiwilligen Leidens viel bedeutender, egal in welchen Kulturkreis und in welche Epoche man blickt. Deswegen war es mir auch wichtig, im Buch auf Accessoires aller Art zu verzichten, die irgendwie mit der typischen kommerzialisierten SM-Ästhetik in Verbindung gebracht werden könnten.
Das Schöne an Schmerz, Gehorsam und Zucht – immer im Kontext einer freiwillig eingegangenen Praktik – ist ja dass sie immer auch ihr Gegenteil bedeuten, ihr schreibt ja selbst bereits in euerer Frage oben das „Un-“ in Klammern davor: Während all das beispielsweise in einem autoritären System ganz klar codiert ist und nichts zweideutiges hat, ist die Selbstpraktik immer beides: Unterwerfung und Subversion. Die Auflösung des Ich im masochistischen Exzess hat kein besonders hohes gesellschaftliches Prestige, das gilt für die/den contemporary sub/bottom ebenso wie für die/den mittelalterlichen Mystiker*in oder Flagellant*in.
Gehorsam als Selbstpraktik ist eigentlich immer ziviler Ungehorsam. Und mal provozierend gefragt: Was gibt es für den Turbokapitalismus, den wir gerade (in seinen letzten Zügen?) erleben bedrohlicheres als ‚Zucht‘, ‚züchtig leben‘ etc., das altmodische Wort heißt letztendlich nichts anderes als: bescheiden, nachhaltig, asketisch. Sind das nicht genau die Tugenden, die wir wieder fördern müssen, wenn wir weiter auf diesem Planeten leben möchten? Alles bekommen, indem man sich selbst zurücknimmt. Aber ich möchte das gar nicht so sehr auf Moral und Ethik runterbrechen; ich fand Zucht, Gehorsam und Schmerz einfach auch immer extrem sexy, vielleicht auch gerade weil sie so unzeitgemäß sind. Wir leben in einer Gesellschaft, in der seit Jahrzehnten alles nur ums eigene Ego geht, das durch Werbung und Marketing in Unendliche aufgeblasen wird. Man soll kaufen, konsumieren, wollen, noch mehr wollen, sich ständig optimieren.
Das Traurige dabei ist, dass dahinter nicht einmal eine fundierte Anthropologie steckt, sondern dass all diese Imperative nur implementiert wurden, damit man möglichst viel Geld erwirtschaftet, noch mehr ausgibt und bloß keine Zeit zum denken übrig hat, denn man muss ja noch mehr arbeiten und seine Schulden abzahlen. Das ist eben genau nicht die Form von Gehorsam, die ich meine. Und mal abgesehen was das für unsere Welt, ihre Ökosysteme und nicht-menschlichen Bewohner bedeutet: was für eine Last, was für eine unmenschliche Bürde! Und was für eine wirklich metaphysische Freude, da einfach mal auszusteigen, sich hinzuknien und Ruhe zu geben, und zu warten was dann passiert. Joes Masochismus in Nymphomanioac ist ja gerade das Gegenteil von Unterwerfung: indem sie die Erfüllung ihrer Begierde aktiv einfordert und über alles Erträgliche hinaus praktiziert, bricht sie alle gesellschaftlichen Konventionen.
Mit wem hast du deine Idee für das Buch „Until I Break“ diskutiert?
An erster Stelle steht da sicher meine Frau Chiara Padovan, mit der ich seit über einem Jahrzehnt arbeite, und die mich kennt wie niemand sonst. Während ich Konzeption und Umsetzung weitgehend allein verantworte, liegt der Löwenanteil an Bildauswahl und Sequenzierung bei Chiara. Sie ist der weitaus bessere Editor von uns beiden. Außerdem bin ich der Meinung dass das Editing immer jemand anderer machen muss, der nicht so nahe am Material ist und alles mit etwas mehr Nüchternheit sieht. Das zwingt einen auch dazu, sich wirklich mit den Bildern auseinanderzusetzen. Erst im wortwörtlichen Kampf um jedes einzelne Bild mit einem starken Editor zeigt sich, ob ein Bild, das man super findet, wirklich bestehen kann, ob man für ein Bild argumentieren kann bis der Editor aufgibt, oder ob man einsieht dass man nur aus einem dumpfen Gefühl heraus an einem Bild festgehalten hat, das aber für andere nicht nachvollziehbar ist. All das betrifft die Zeit nach den Shooting. Vor den Aufnahmetagen hatte ich immer lange Mailwechsel mit meiner Protagonistin, in denen es aber weniger um die geplanten Szenen ging, als ganz allgemein um die Stimmung des Buchs. Aber da lagen wir so sehr auf einer Wellenlänge dass man nicht viel sprechen musste, auch während der Shoots. Sie hat alles selbständig interpretiert und ich hab es nur mitfotografert. Das war recht einfach, eher wie die Arbeit mit einer Schauspielerin als mit einem typischen Model, das man ‚in Pose stellt‘.
Im weiteren Verlauf wären dann sicherlich noch Christine Maier zu nennen, deren klare graphische Vision dem Buch seine einzigartige Form verliehen hat, und Nael El Nahawi, ohne dessen Expertise im Buchdruck unsere Ideen nicht pragmatisch umsetzbar gewesen wären.
Was sind die größten Herausforderungen beim Büchermachen?
Beim ersten selbst publizierten Buch ist alles eine Herausforderung. Konzeptuell bedeutet das, auf fast 150 Seiten ein eigenes Tempo und ein gutes Narrativ zu entwickeln, mit dem man die Leute mitnimmt. Für uns war von Anfang an klar dass das wie ein guter Roman oder ein guter Film funktionieren musste. Und dann sind da natürlich die praktischen und die wirtschaftlichen Aspekte. Until I Break ist ja (mit Chiara als Mitherausgeberin) selbst publiziert, das heißt wir mussten uns da als Neulinge in alle Bereiche der Produktion (Papier, Drucktechniken, Formate, Cover usw.) und der Vermarktung einarbeiten, der Preis lag ja mit 129,- EUR in einem Bereich, in dem selbst die meisten Fotobuchhandlungen zurückhaltend oder gar nicht bevorraten.
Und wie hast du sie gemeistert?
Man braucht Zeit und ein gutes Team, dem man vertraut und mit dem man offen reden kann. Und man muss sich natürlich in alle Bereiche einarbeiten und sich selbst um die Vermarktung kümmern. Nach der Veröffentlichung waren wir ein Jahr lang auf fast allen europäischen Fotobuchmessen unterwegs. Da sind alle Händler und Sammler anwesend und man kann ein Buch ganz unkompliziert zeigen, das ist gerade in der Preisklasse wichtig. Das war auch eine wundervolle Zeit, die Photobook-Community ist recht klein und sehr entspannt und hat uns sehr freundlich aufgenommen und sehr geholfen. Da sind auch viele gute Kontakte entstanden. Bis auf ein paar Sonderausgaben mit Print ist Until I Break nun auch ausverkauft.
Hast du eine Lieblingsdoppelseite im Buch? Wenn ja, welche und warum?
Ich kann mich nicht entscheiden: Zum einen Seite 72/73, auf den ersten Blick sind da natürlich die weißen Höschen, die ich sehr mag, und die auch immer dieses Oszillieren zwischen Reinheit und Beschmutzung transportieren. Aber das Bildpaar (vor allem das Bild rechts mit dem Ei) ist auch eine Hommage an Georges Batailles erotisch-philosophische Kurzgeschichte Histoire de l’oeil (1928; dt. Die Geschichte des Auges, enthalten in der Anthologie Das obszöne Werk), die schon viele Surrealisten (Masson, Buñuel etc.) inspiriert hat. Dann die Seiten 98/99, man weiß nicht was der größere Exzess, die größere Obszönität ist: der reale Akt des Kniens und Sich-Öffnens, oder der Denk-Akt des Phantasierens. Juliette, Justines Schwester bei de Sade, optiert zuletzt für die Phantasie, denn der sind (im Gegensatz zur Realität) keine Grenzen gesetzt. Auf dem rechten Bild, einem Portrait, sitzt das Mädchen auf einem Sessel, den Kopf angelehnt, sie trägt eine Bluse, es gibt keine nackte Haut zu sehen, aber sie ist verschwitzt, hat den Mund leicht geöffnet und die Augen wie in Trance nach oben verdreht. Eine Käuferin von Until I Break hat mir versichert, dies sei für sie das erotischste Bild im ganzen Buch. Ein schönes Kompliment, nicht?
Welches neue Print-Projekt hast du dir als nächstes vorgenommen?
Mit dem nächsten Buch soll eine ganze Reihe beginnen: HARD THEORY. Inhaltlich wird es an Until I Break angrenzen, aber sich durch eine thematische Erweiterung und eine andere Form auch deutlich davon absetzen. Zudem handelt es sich um ein Gemeinschaftsprojekt von mir, Chiara und Alexandra Keiner, die von Anfang an der Konzeption mitgewirkt haben. Und obwohl die Bilder in der ersten Ausgabe von mir sind, wünschen wir uns für die Zukunft, weitere Autoren und Künstler einzubeziehen. Der erste Band wird den Untertitel theoría haben – in der Bedeutung der alten Griechen: Kontemplation, Gottesschau – und fotografsch nach den Möglichkeiten metaphysischer Erkenntnis in einer (nach-)postmodernen Gesellschaft fragen. Neben vielen dokumentarischen Fotos, objets trouvés und Natureindrücken wird der Fokus dabei auch wieder auf der fotografschen Inszenierung von Selbstpraktiken liegen und damit auf dem subjektiven Umgang mit religiösen/metaphysischen Erfahrungen. Klar, dass da auch dem Körper (fast hätte ich gesagt: dem Fleisch) eine zentrale Rolle zukommt…