Carmen Catuti: Liebe Grüße aus 18500 m Höhe, Michelle
Die Veröffentlichung „Liebe Grüße aus 18500 m Höhe, Michelle“ von Carmen Catuti zeigt eine besondere Art der Zusammenarbeit zwischen Fotografin und behandeltem Subjekt. Über Monate hinweg porträtierte Catuti die Dortmunder Stadtbekanntheit Michelle. Während des Prozesses wandelten sich die Portraitaufnahme mit Fotografin als Beobachter, und formten sich zu einer Portraitserie in welcher Michelles Selbstwahrnehmung eingefangen wurde. In Catutis Buch zeigt sich das Ergebnis eines Machkampfes um Eigen- und Fremdwahrnehmung.
Wie kam dir die Idee zu diesem ungewöhnlichen Buchprojekt?
Das Buch ist zwischen 2010 und 2011 entstanden, zu der Zeit habe ich Dortmund Fotografie studiert.
Michelle, der Protagonist des Buches, ist in Dortmund aufgrund seines exzentrischen Auftretens eine stadtbekannte Persönlichkeit. Fast täglich flanierte er mit seinem weißen Hund entlang Dortmunds Fußgängerzone. Ich bin ihm dort oft begegnet und war lange von ihm fasziniert, bevor ich mich endlich getraut habe ihn anzusprechen.
Seine ganze Erscheinung und Selbstinszenierung waren ein einziges Rätsel und ich war neugierig mehr über ihn zu erfahren. Die Fotografie war anfänglich nur ein Vorwand, um mit ihm in Kontakt zu treten. Er sagte sofort zu, was mich total verwunderte. Normalerweise reagieren Menschen, die ich auf der Straße anspreche, anfänglich skeptischer, fragen genauer nach, wieso ich sie ausgesucht habe und was nachher mit den Fotos passieren soll. Er war überhaupt nicht an solchen Fragen interessiert. Im Nachhinein denke ich, dass wir uns beide zu diesem Zeitpunkt auf ein Spiel mit vorgefertigten Rollen eingelassen haben. Ich stellte mich als Fotografin vor, die nur daran interessiert war ihn zu fotografieren. Er nahm die Rolle des Models ganz selbstverständlich ein und nutzte die Fotoshootings später als Bühne.
Was fasziniert dich an Menschen im Allgemeinen und an “Michelle“ im Speziellen?
Wir alle sind voller Widersprüchen, die uns meist gar nicht bewusst sind, weil wir uns blind stellen. Widersprüche sind schwer zu ertragen. Unsere Identität ist kein homogenes Ganzes, sondern eher ein Flickenteppich aus unterschiedlichen Persönlichkeiten. Diese Persönlichkeiten stehen auch in Beziehung zueinander. Wenn sie unterschiedliche Werte und Ziele verfolgen führt es zu innerlichen Konflikten. Trotz allem sind wir stets bemüht nach außen ein gefestigtes Bild zu präsentieren. Das gelingt uns je nach Situation mehr oder weniger.
Michelle sehe ich als ein Beispiel dafür, er fasziniert mich weil ich mich in ihn wiedererkenne, ich erkenne in ihn den menschlichen Zustand wieder. Meine Selbstinszenierungen sind nicht so aufwendig und extravagant wie seine, dafür könnte man aber sagen, dass er verspielter ist und mehr Spaß am Spiel hat.
Warum ist es so schwierig, ein Fotobuch zu machen?
Die größte Herausforderung sehe ich in der Sequenz der Bilder. Man legt eine Reihenfolge fest und bringt Bilder in Beziehung zueinander. Man möchte, dass die Beziehung die man schafft spannender ist als die Bilder jeweils alleine betrachtet. Es soll einen Mehrwert geben, der sich auch nach dem hundertsten Durchblättern nicht erschöpft. Ich liebe Diane Arbus Zitate über Fotografie: „A picture is a secret about a secret, the more it tells you the less you know.“ Für mich gilt das gleiche für Fotobücher. Obwohl man mehr Informationen zur Verfügung hat und unterschiedliche Informationsquellen zusammenbringt (Bild, Text, Layout, Materialien) sollen diese Informationen das Geheimnis nicht rauben, sondern zum Geheimnis beitragen.
Wenn sich zwei Bilder sich auf dieser Art und Weise befruchten, wenn sie zusammen einen neuen Raum aufmachen, ohne ihn konkret zu benennen, dann geht es um subtile Zusammenhänge, dann passiert das meistens auf der feinen Gefühlsebene. Unser Intellekt kann im Nachhinein Gründe dafür finden, warum diese zwei Bilder so gut zusammenpassen, aber ganz konkret kann man es doch nicht fassen.
Bei der Zusammenstellung der Bilder habe ich Dinge einfach ausprobiert und bin meinem Gefühl gefolgt. Um nicht komplett im Chaos zu versinken musste ich aber auch ein paar „Spielregel“ festlegen. Ich habe die Bilder in unterschiedliche Gruppen eingeteilt und für jede Gruppe legte ich ein anderes Seitenlayout fest.
Hast du eine Lieblingsseite im Buch?
Ich mag die Doppelseite mit dem Schäferhundportrait und den Vögeln. Es ist einer der wenigen Doppelseiten auf dem Michelle nicht zu sehen ist. Der weiße Schäferhund repräsentiert ihn aber sehr gut. Michelle selbst hat ihn sozusagen zum Repräsentanten ausgewählt. Und tatsächlich sieht der Hund auf dem Bild merkwürdig menschlich aus.
Das Vogelbild steht im Zusammenhang mit Michelles SMS, die auch im Buch enthalten sind, und in denen Michelle von seinen Reisen als Pilot erzählt. Für mich ist das das Vogelbild aber auch eine Art Verortung. Wenn diese Geschichte irgendwo stattfindet, dann in diesen luftigen Höhen. Es ist eine Bildzusammenstellung, die einerseits absurd ist und auf der anderen Seite für mich sehr viel Sinn macht.
Carmen Catuti