Das Phänomen der weißen Sneaker
Texte:
Illustration: Melissa Cagatay
Prolog: Alexandra Zenleser
Redaktion: Alexandra Zenleser
Der Blick ins eigene Schuhregal, vor die Eingangstüren zahlreicher WGs oder beim mittlerweile seltenen Gang ins Office zeigt: Weiße Sneaker sind als Alltagsphänomen nicht mehr wegzudenken!
Es ist erstaunlich, was hinter so einem Paar Sneaker verborgen liegen kann. Bei Willy Iffland waren es bereits genau diese weißen Sneaker, die eine große Leidenschaft für Mode und die Sneakerszene entfacht haben. Der Air Force 1 war dann nicht nur ein Schuh, den man sich vom Taschengeld noch nicht leisten konnte, sondern ein Sinnbild der Hip Hop Ära, die Verbindung zum eigenen Teenie-Idol und der Ausdruck von Zugehörigkeit. Geht man von den 90ern weit zurück in die 40er Jahre, ist im Beitrag von Katja Wanke zu lesen, so konnten weiße Sneaker eine Emanzipation von alten Normen, schon beinahe eine Entfesselung vom System verkörpern.
Mittlerweile sind die weißen Sneaker für viele sicherlich nur einfach Schuhe. Simpel zu kombinieren, die zu allem passen und in jeder Form und Preisklasse zu finden sind. Dennoch bleibt nicht aus, dass der weiße Sneaker immer auch ein gewissen Lebensstil signalisiert. Die Farbe Weiß steht für Reinheit – zumindest bevor es das erste Mal regnet, wenn man die neuen Schuhe trägt. Er könnte, so schlicht er auch daherkommen mag, sogar als glänzendes Statussymbol der westlichen Kultur verstanden werden. Aber ist er wirklich so rein voll allen Schattenseiten, wie es Francesca-Romana Audretsch in ihrem Beitrag thematisiert? Strahlt er vielleicht doch nicht so weiß? Man könnte fast meinen, dass die Menschen heute so sehr nach Selbsterfüllung und Individualität streben, dass sie glücklich darüber zu sein scheinen, sich auch einfach mal wieder im kollektiven Einheitsbrei ausruhen zu dürfen. Selbst wenn man wie Paula Thomaka zu dem Fazit kommt, dass einem weiße Sneaker einfach völlig egal sind, haben doch alle irgendwie eine Meinung dazu. Ein paar Schuhe wie ein Phänomen, das sich nicht klar definieren lässt – aber mit Sicherheit wahrzunehmen ist.
In den Sneakern meiner Großmutter
Meine Oma ist eine Fashionista. Sechs Quadratmeter rustikale Eiche mit goldenen Knäufen, vollgepackt mit Schätzen aus fünf Jahrzehnten, sind der Beweis. Heute erlebe ich meinen persönlichen Narnia-Moment zwischen ihren Kleiderbügeln. Ich schlinge und winde mich durch Seide und Kaschmir, kämpfe mich an Polyester und Leder vorbei, verheddere mich in einem Schulterpolster und stoße unversehens auf einen Schatz: Ein Paar weiße Reebok Classics, Größe achtunddreißig. Ich suche Augenkontakt. Meine Oma nickt mir gutmütig zu und mir ist klar, dass diese Sneaker soeben ihre Besitzerin gewechselt haben.
Drei Stunden „Behalten oder Spenden“-Fragen später, nach denen mir Marie Kondo bestimmt mütterlich die Schulter getätschelt hätte, lädt mich meine Oma ins Café ein. Ich blicke auf 77 Jahre geballte Modeerfahrung, die auf dem Stuhl gegenüber genüsslich an einem Americano nippt. Unter dem Tisch grinsen mich meine neuen Schuhe an und ich frage meine Oma, ob sie noch weiß, wie das „Weiße-Sneaker-Phänomen“ in ihrer Generation eingeläutet wurde.
Erinnern kann sie sich nicht. Sie waren plötzlich da. Meine Oma meint, weiße Sneaker gehen für sie Hand in Hand mit einer Gesellschaft, die langsam aber sicher die Fesseln ihres strengen Elternhauses ablegt. Als meine Oma die Schule beendet hat, waren weiße Sneaker noch nicht „salonfähig“. Zitat: „Wie können Sie es wagen, sonntags Schuhe ohne Absatz zu tragen?“ Man möge sich vorstellen, dass sich die Frauen in den 40er Jahren in unbequeme Heels zwängen mussten, um auf der Tanzfläche einen ordentlichen Boogie Woogie hinlegen zu können.
Meine Freunde würden den Begriff Hallux wahrscheinlich mit einem coolen Tech-Start-up assoziieren. Doch eigentlich handelt es sich dabei um eine schmerzhafte Fehlstellung am Mittelfußknochen, die meiner Oma oft Schmerzen bereitet. Hallux entsteht häufig durch zu enge Schuhe mit hohen Absätzen. Ich lehne mich jetzt mal weit aus dem Fenster und behaupte, dass dieses Problem mit den Boomern, der Gen-X und der Gen-Y rapide zurückgegangen ist. Fast wirkt es so, als hätte jemand in den 50er Jahren einmal laut „JETZT MACHEN WIR UNS ALLE MAL EIN BISSCHEN LOCKER!“ gerufen, und die Fashion-Welt hätte aufgeatmet und ihre Salonschleicher tief in die Kleiderschränke verbannt und ihnen einen zusätzlichen Tritt zum Abschied verpasst.
Sind weiße Sneaker dann ein Sinnbild von Rebellion? Von Emanzipation? Von Tabubruch? Ich lache laut auf, denn ich merke, wie komisch das klingt. Meine Oma lacht nicht. Sie erklärt mir, dass jede Generation alte Konventionen hinterfragt und neue Standards normalisiert. So wären Freizeitschuhe vor dem Traualtar in den 40er Jahren ein waschechter Skandal gewesen. Heute ist es das normalste der Welt. Weiße Sneaker wirken so herrlich unkompliziert in einer Zeit, die an Komplexität wohl nicht zu überbieten ist. Alle Möchtegern-Kritikern, die sich mit dem Phänomen weiße Sneaker um eine schwindende Individualität unserer sonst so bunten Gesellschaft sorgen, würde ich deshalb gerne fragen: Ist es denn so falsch, der Sehnsucht nach Unkompliziertheit nachzugeben? Ich bin vom Gegenteil überzeugt. Meine Oma übrigens aus.
Sie bezahlt die Rechnung und wir stehen auf. Beim Hinausgehen fällt mein Blick erneut auf meine Reeboks, aber ich sehe sie jetzt mit anderen Augen als noch am Vormittag. Ich lege einen Zahn zu, denn meine Oma ist mir bereits einige Schritte voraus.
Text: Katja Wanke
Das Phänomen der weißen Sneaker –
eine kleine Anekdote von Willy Iffland
Oftmals werde ich gefragt, wie ich denn eigentlich zum Thema Sneaker und meiner Leidenschaft gekommen bin. Die Frage ist relativ leicht beantwortet. Durch den Air Force 1 – und wie kann es auch anders sein: ein weißer Sneaker.
Damals, als ich noch im jugendlichen Alter war und neun Monate sparen musste, um einmal im Jahr ein paar „coole Klamotten“ kaufen zu gehen, wollte ich unbedingt mein erstes eigenes Paar weiße Sneaker haben. Denn mit meinen 13 Jahren, die ich damals war, gab es für mich musikalisch gesehen nichts cooleres als Leute wie 50 Cent, die Diplomats, Jay-Z und Co. Und was haben alle neben der guten Musik gemeinsam? Richtig! Sie haben international eine Ära geprägt, nicht nur musikalisch, sondern auch Style-technisch. Und so kam es, dass ich als kleiner, pubertierender Junge auch unbedingt so einen Look haben wollte – ungeachtet dessen, dass das bei mir sowieso immer lächerlich aussah 😀 Also kaufte ich mir von meinem erspartem Geld hier und da mal ein 4XL Shirt, aber nie konnte ich mir einen Air Force leisten, denn zur damaligen Zeit waren circa 100 Euro für einen Schuh für mich undenkbar.
Weiße Sneaker sind glaube ich die oberste Spitze des Berges, was den Sneaker-Markt angeht. Ich kenne niemanden in meiner Bubble, der nicht mindestens ein NEUES und WEIßES paar Sneaker in seinem Schrank hat. Für einen Jungen aus der Kleinstadt war es damals nicht unbedingt üblich rumzulaufen, wie ein Wannabe-Rapper: Weite Baggy-Jeans, lange Shirts, ein paar Ketten aber das Wichtigste: die weißen Sneaker. Du warst einfach nicht cool, wenn du keine Air Force 1 schneeweiß getragen hast. Egal ob Jay-Z, 50 Cent, P Diddy oder Eminem – alle haben sie die Schuhe getragen. Die mussten richtig leuchten, dann hattest du was geschafft. Für mich immer ein Lebenstraum, den ich mir dann sehr schnell das erste Mal erfüllt habe.
Ich zog hinaus aus meinem kleinen 20.000 Menschen Städtchen in Thüringen mit Mutti nach Leipzig und nach stundenlangem betteln, argumentieren (wie es ein 13-Jähriger eben tut) und traurige Augen machen konnte ich dann wirklich meinen ersten eigenen Air Force kaufen. Ich denke es war damals bei Foot Locker oder einem anderen Sportgeschäft. Das war der Tag, an dem meine Sneaker-Leidenschaft so richtig entbrannt ist. Natürlich nicht auf dem Level, wie sie heute ist, aber ich war „awared“ für das Thema und letztendlich hat das meinen Weg bis heute weitestgehend geprägt und geebnet und mein Hobby zum Beruf werden lassen. Thank god for white sneaker 😀
Text: Willy Iffland
No hard Feelings
Vor einigen Monaten hatte ich einen Sportunfall und war gezwungen, mein Schuhwerk komplett zu überdenken. Ich war in ständiger und von mir verachteter Begleitung meiner ausgetragenen Joggingschuhe von Asics oder den klassischen Nike Air Monarch.
Als ich endlich gewillt war, meine Varianz an Sneakern auszuweiten, durchstöberte ich die diversen Online-Stores. Unweigerlich wurde mir der weiße Sneaker vorgeschlagen – ein Versprechen aus gesundem Schuhwerk und ästhetischem Design. Mir erschien das Bild von weißen Reebok Club C in Kombination mit Messenger Bag, Fanschal und Mom Jeans. Gefolgt von weißen Adidas Stan Smith mit Skinny Jeans auf Hochwasser, freiliegenden Knöcheln und Söckchen, die minimal aus den Schuhen blitzen. Und nicht zuletzt die veganen copycat Sneaker. Doch mit dem Fortschreiten meiner Recherchen fiel mein Auge auf den legendären Nike Air Force in all seinen Variationen und Kooperation, nicht zuletzt mit Dior. Die klassischen Converse durften in dieser Reihung natürlich auch nicht fehlen – high, low und plateau.
Von dieser Auswahl überrascht, interessierte mich die Meinung der einschlägigen Fachpresse. Während Vogue und GQ diese Schuhe nun in den Himmel lobten, zerschmetterte ELLE den weißen Sneaker in seine Einzelteile. Verwirrt von einem diametralen Meinungsbild auf der ersten Seite von Google Search kam ich zu dem Entschluss: Ich fühle es nicht oder eher, weiße Sneaker sind mir einfach egal.
Denn trotz dieser verheißungsvollen Aussicht auf eine Work-Life-Balance als Schuh getarnt, sträube ich mich dagegen. Zielsicher greife ich regelmäßig zum selbstzerstörerischen Gegenpart, da meine Bereitschaft für den unbequemen Schuh grenzenlos ist: die ersten Blasen nach 10 Minuten, Umknicken inklusive Bänderriss und als Krönung noch eine verkürzte Beinmuskulatur. Geprägt von einer Bilderflut an Schuhen, die ein (vermeintlich) erwachsener Mensch (vermeintlich) tragen soll, nehme ich die Aspekte meiner täglichen Begleitung wohlwissend in Kauf. Es gibt doch nichts über chunky Leather Boots, viel zu hohe High Heels oder wackelige Plateau Pantoletten. Auch nach sechs Monaten Schuh-Zwangspause – ohne neue erworbene Sneakers – fiebere ich sehnlichst auf den Moment, endlich wieder in meine zehn Zentimeter hohen Cow-Boots zu schlüpfen. Doch mein Schuhcomeback ist mit Vorsicht zu genießen – Gesundheit geht vor und meine Abneigung gegenüber weißen Sneakern gibt mir plötzlich prätentiöse Boomer Vibes.
Text: Paula Thomaka
Das Phänomen der weißen Sneaker
Als ich noch in der Schule war und als pubertierender Teenager versuchte meinen ganz eigenen Kleidungsstil zu entdecken, war ein Bild meiner Eltern während einer Grand Canyon Tour mein absoluter Favorit. Meine Eltern stehen lässig vor dem Mietwagen mit Blue Jeans und den typisch amerikanischen, weißen Oversized-T-Shirts aus Baumwolle. Mein Vater trägt Lederstiefel und meine Mutter Nike Sneaker in beige. Nachdem ich erfuhr, dass meine Mutter dieses Paar Schuhe immer noch besitzt, war für mich klar: Ich möchte sie auch tragen. Die Schuhe haben an meinen Füßen genau einen Schultag gehalten. Dadurch, dass sie so alt waren, ist die Sohle mit den Jahren ausgetrocknet und hat sich beim Tragen vom Rest des Schuhs gelöst. Meine erste Sneaker Erfahrung war also ein Reinfall – und ich enttäuscht von Sneakern.
Während meiner Schulzeit waren Nike Air Max One oder Converse großer Bestandteil der Schuhkultur meiner Mitschüler:innen. Weiße Converse sahen erst gut aus, wenn sie richtig durchgetragen waren. Sie komplett weiß und ohne Flecken zu tragen wurde eher belächelt. Die italienischen Mitschüler:innen trugen die Marken Kawasaki oder Superga, auch übergehend in weiß. Heute wiederholt sich im modischen Streetstyle nicht nur der Kleidungsstil, den meine Eltern damals trugen, sondern auch weiße Sneaker. Sie sind fester Bestandteil eines jeden WG-Hausflures oder Hauseingangs geworden. Als ich zum ersten Mal die Türschwelle meiner neuen WG in Wien zum Antritt meines Erasmus-Semesters betrat, war das erste was ich erblickte: ein ganzer Haufen weißer Sneaker. Ich selbst habe ein Paar weiße Sneaker mal von meinen Brüdern zu Weihnachten und ein Paar weiße Adidas Originals von einem Arbeitgeber geschenkt bekommen.
Wieso ich mir niemals welche gekauft habe? Weil ich tatsächlich als stark farbvisuell orientierter Mensch fast ausschließlich bunte Kleidung und Schuhe besitze. Weiße Sneaker gehen immer – sagen mir viele Menschen – aber identifizieren kann ich mich damit nicht wirklich.
Die Farbe weiß steht in vielen Kulturen für Unschuld, Reinheit und Unsterblichkeit. Wenn man jedoch hinter die Kulissen der Schuhkonzerne schaut, sind sie alles andere als sauber. Sneaker wie von der Marke Nike haben auch eine dunkle Seite zu ihrer weiß strahlenden Street Credibility. Nicht ohne Grund hat Nike 2021 – besser zu spät als nie – ihren “Supplier Code of Conduct” (Verhaltenskodex für Lieferanten) aktualisiert und spricht sich gegen Kinderarbeit und Zwangsarbeit aus. Gesundheitsschädliche Tätigkeiten sind grundsätzlich an ein Mindestalter geknüpft. Aber wer möchte eigentlich den ganzen Tag auf giftigen Stoffen rumlaufen? Unsere Füße tragen uns ein Leben lang, zumindest nehmen wir das selbstverständlich an. Also wieso nicht auch dort unten schauen, dass unsere Füße gesund bleiben und auch aus nachhaltigen Arbeitsverhältnissen kommen? Deswegen würde ich immer einen guten italienischen Lederschuh vorziehen, als glänzende Sneaker aus Plastik. Denn das Image weißer Sneaker mag man oberflächlich gesehen schön polieren können, aber ein Lederschuh von guter Qualität hält ein Leben lang. So gehe ich alle paar Jahre zum Schuster meines Vertrauens und unterstütze dabei ein langsam aussterbenden Handwerk, indem ich die altbekannten Schuhe zum Sohlen Wechseln vorbeibringe.