„Wer bin ich?” – Eine Frage, die manche von uns ein ganzes Leben lang beschäftigt. In manchen Momenten sehr bewusst, in anderen unterschwellig als ewiger Begleiter. Wie ein Schatten, der unsere Bewegungen nachahmt. Der unsere Form annimmt und dann doch wieder aus ihr herausbricht, sich entfremdet und dann beinahe etwas Unheimliches annehmen kann. Unabhängig davon, ob man sich die Frage nach der eigenen Identität stellt, begegnet sie einem doch früher oder später im Leben. Ob man möchte oder nicht.

Obwohl es kaum eine selbstbezogenere Frage gibt, tritt sie meistens erst in der Auseinandersetzung mit äußeren Faktoren auf. Eine Begegnung, eine Reise können dabei schon ausreichen, um scheinbare Gegebenheiten in Frage zu stellen. Sich auf den Weg nach neuen Antworten zu begeben und in sich selbst welche zu finden. Ist Identität dem Menschen unabänderlich in die Wiege gelegt, die Summe aus unseren Erfahrungen oder doch etwas Formbares? Kann sie sich im Laufe des Lebens ändern oder ändern wir nur unseren Blick auf sie?

Dass die Frage nach der eigenen Identität oftmals schmerzhaft sein kann, unbequem, verschwommen aber auch wundervoll, gefüllt von Erkenntnissen und persönlichem Fortschritt, zeigen uns unsere Gäste der November Ausgabe von Views: Wilhelmina, Lena und Saeed. Die eigene Identität kann eine Suche, eine Reise oder ein Weg in die Zukunft sein. Gefüllt von Orten, Sprachen und Menschen, findet man letztlich die Antwort nur in sich selbst.

I. Wilhelmina’s View


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Und ich träume auf Englisch.

die WhatsApp-Gruppe ist
der Krisenstab
und jede:r hat eigene Excel-Tabellen und Hochrechnungen
von Nevada und Georgia und Arizona
und ich bin auf Zoom mit Ariana Reines und den Poeten
als Freudenschreie von einem kleinen Video-Rahmen auf
den nächsten überspringen 
und es ist strahlender Sonnenschein in Brooklyn und in DC
viel zu warm für einen November 
und bald sehe ich Freund:innen auf Instagram zu 
wie sie auf der Straße tanzen, wie sich der McCarren Park füllt

Wenn ich einen langen Tag habe, müde bin
schleicht sich mehr und mehr Deutsch in die krummen Sätze ein
und wenn es ein sehr, sehr langer Tag war, dann entfliehen mir bulgarische Wörter
und ich habe es nicht kommen sehen

Zehn Jahre lang konnte ich nicht schreiben
und dann begannen kleine Sätze sich ihren Weg zu bahnen
so weich noch, dass sie nur Ideen waren, unausgesprochen
auf Englisch

Und ich träume auf Englisch
betrinke mich auf Englisch
küsse auf Englisch
werde krank auf Englisch
erkläre KI auf Englisch
surfe auf Englisch
tröste auf Englisch
werde rot auf Englisch

im Stundentakt wird ein weiterer Ort, an dem wir uns sehnen zu sein erst einmal unerreichbar
im Spätsommer konnte man gerade noch so entkommen
Portugal und der Atlantik und ein bisschen weiter sogar
und Lissabon war leer
und ich sitze in Cíntia’s kleinem Studio im Nordwesten – lichtdurchflutet
See you next year, sagt sie nachdem sie die Tinte abgewischt hat
es ist windig am Tejo am letzten Abend
und es ist ein klein bisschen so wie Remarque es geschrieben hat
und Grenzen sind ein Ding,
das wir so vergessen haben
jetzt schreiben wir einander welches Land auf der neuen Liste steht

und meine liebsten Großeltern
oh meine Liebsten,
die ich nicht sehen kann
und zwei Zigaretten, die mit einer Liebe in Paris geblieben sind
und die Einladung sie in der roten Zone zusammen zu rauchen
und wie sehr wir uns verflochten haben
wie lange es gebraucht hat
und wie schnell wir uns an grenzenlose Freiheit gewöhnt haben
und wie schnell wir Wurzeln geschlagen haben
einen ganzen Wald
von der Atlantikküste bis zum Schwarzen Meer

Am Sonntag – sagt er – lass uns ein Haus in Sizilien kaufen
man kann gerade eines für einen Euro ersteigern
ja, und dann müssen wir miteinander reden, es war lange überfällig
und unsere Konversation ist auf Englisch
what are you afraid of? 

Und dann wird es ein bisschen still
und dann sagt er nach ein paar Tagen
hier, Wilhelmina Welsch, Rilke’s Advent:

Es treibt der Wind im Winterwalde
Die Flockenheerde wie ein Hirt,
Und manche Tanne ahnt, wie balde
Sie fromm und lichterheilig wird;
Und lauscht hinaus. Den weissen Wegen
Streckt sie die Zweige hin – bereit,
Und wehrt dem Wind und wächst entgegen
Der einen Nacht der Herrlichkeit.

und es riecht nach ein bisschen Schnee
und nach Tannenbäumen
wie auf der Straße in Brooklyn vor Weihnachten

-ww


Text: Wilhelmina Welsch

II. Lena’s View


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Ein Brief an mich Selbst

Liebe Lenkica, oder sollte ich doch Lena sagen?

Ich schreibe dir, weil ich einfach mal wissen wollte… Wer bist du eigentlich? Dein Papa ist Deutscher. Du bist in Deutschland geboren, du bist hier zur Schule gegangen, du lebst und arbeitest hier. Es ist dein „Vaterland“. Manch eine:r würde sagen, dass du pünktlich und sorgfältig wie eine Deutsche bist. Also bist du Deutsche – das steht auch so in deinem Pass.

Aber warte mal kurz.

Deine Mutter ist doch Kroatin. Und schon von klein auf kennst und liebst du auch Kroatien. Bist du denn dann auch Kroatin? Das steht nicht in deinem Pass. Und eigentlich kannst du die Sprache ja auch nicht fließend sprechen. Du hast mir, also dir, mal gesagt, dass du dich aber auch als Kroatin fühlst. Du bist stolz, dass du ein Teil dieser Kultur, dieses schönen, kleinen Landes bist. Du sprichst immer von deinem „Mutterland“.

Bist du Deutsche? Bist du Kroatin? Bist du beides?
Du sagst du gehörst zum einen und zum anderen. Aber Du hast auch mal gesagt, dass du irgendwie weder ganz zum einen noch zum anderen gehörst. Das fühlt sich komisch an. Woran macht man eigentlich fest, wer man denn jetzt wirklich ist und welcher Nationalität man angehört? Hast du das schon rausgefunden?

Hat es damit zu tun welche Sprache du sprichst? 
Kroatisch kannst du wie gesagt nicht fließend. Aber du fühlst dich wohl, wenn du es hörst. Du kannst gar nicht anders – es sind die Laute, die du von Kindesbeinen an mit Wärme, Liebe und Zugehörigkeit verbindest. Auch wenn du die Worte nicht immer genau verstehst, verstehst du eine tiefere Wahrheit, die sich nicht in Worte fassen lässt. Du kannst das auch nicht einfach ausstellen. Es ist ein Teil von dir, ob du willst oder nicht.

Hat es etwas mit Verhaltensweisen zu tun? 
Du magst die Lautstärke am kroatischen Tisch, das Durcheinander von Händen, wenn alle gleichzeitig nach Pršut (Dalmatinischer Schinken) und Brot greifen. Manchmal nervt dich die Aufforderung mehr zu essen, wenn dein Bauch doch schon voll ist. Aber man will die Gastgeber:innen ja nicht beleidigen! In solchen Momenten schätzt du wiederum die deutsche Zurückhaltung: „Warum entschuldigst du dich? Ist doch ok, wenn du schon satt bist?“ 
Dabei erkennst du Züge beider Kulturen immer wieder in dir selbst: Wenn du Gäste einlädst, dann wünschst du dir, dass sie mit deutscher Pünktlichkeit erscheinen. Und beim Essen musst du dich zurückhalten sie nicht zu drängen, dass sie mehr als nur einen Teller nehmen. Das machst du ganz automatisch.

Hat es etwas damit zu tun, wo du dich zuhause fühlst? Klar bist du in Deutschland zuhause, du lebst hier schon immer. Aber…
Wenn du hier bist, dann vermisst du das dort. Wenn du dort bist, vermisst du das hier. Du bist gefangen in ständiger Sehnsucht, im Limbus. Und obwohl dieser dich plagt bist du stolz, denn du bist ein Wandler zwischen zwei Welten.

Ich würde es fast als Identitätsmultitasking bezeichnen: Du bist im ständigen Dialog mit zwei Kulturen, mit zwei Seiten deiner Selbst. Manchmal ist es anstrengend und du fühlst du dich völlig verloren. Manchmal ist es überwältigend schön und gibt dir eine unglaubliche innere Stärke.
Die meiste Zeit weißt du aber, dass es etwas ganz Besonderes ist. Ein Schatz, den du einfach so in dir tragen darfst – ganz selbstverständlich.

Bist du Deutsche? Bist du Kroatin? Ich bin beides. 
Ist das nicht etwas ganz Wunderbares?


Text: Lena Barković

III. Saeed’s View


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Dieses Jahr habe ich nach zehn Jahren Leben in Deutschland meinen deutschen Pass bekommen.

Es war schon aufregend, mit diesem bordeauxroten neuen Reisepass in der Hand aus der Ausländerbehörde, das für mich hässlichste Gebäude Stuttgarts, rauszulaufen. Dabei ist es nicht nur das Gebäude, es ist auch das Gefühl, das man in dem Gebäude als Ausländer hat. Als Außenseiter.

„Endlich (!!!1!!11!) nicht mehr hierherkommen müssen“ dachte ich, und bin aus der Tür gelaufen. Dabei habe ich auf den Reisepass in meiner Hand geschaut und als erstes die Europa-Sterne darauf entdeckt. Das hat mich umso mehr gefreut. Die Sterne, die ich so gerne auf meinem Hoodie oder meiner Cap trage, da ich an die Werte Europas glaube, waren jetzt auf meinem Ausweis. „Endlich gehöre ich auch dazu“, dachte ich.

Direkt danach habe ich mein Handy rausgeholt, ein Selfie mit dem Pass gemacht und das Foto meinen Eltern geschickt. Sie freuen sich am meisten für mich, dass ich jetzt eine zweite Staatsangehörigkeit habe. Sie waren es letztendlich, die mich hergeschickt und mir so ermöglicht haben meine Träume zu verfolgen. Zuhause wäre das schwierig gewesen. Die Regierung in Teheran akzeptiert Menschen wie mich nicht. Um dort zu überleben, müsste ich jetzt ein anderer Mensch sein. Dass ich hier akzeptiert werde freut meine Eltern – vor allem, dass sich ANGELA MERKEL jetzt um mich kümmert. Sie ist unter Iraner:innen sehr beliebt. Dort kennt man keine mächtige Person, die ihr gleicht. Vieles wofür Frau Merkel in Deutschland kritisiert wird, wird im Iran an ihr geschätzt und respektiert.

Nachdem ich das Selfie abgeschickt habe, hatte ich Lust auf Spazieren und Musik hören. Im ersten Lockdown bin ich 30 Jahre alt geworden, und habe mir für den Tag eine Playlist erstellt mit Tracks, die mein Leben und seine Phasen etwas zusammenfassen. Aber natürlich nur mit der Musik, die ich noch hören möchte. An „alles“ Alles muss man sich auch nicht zurückerinnern. Auf der Playlist kommt nicht viel Persisch vor, Deutsch schon eher. Aber insgesamt ist sie weder persisch noch deutsch. Ich würde es als „Weltmusik“ bezeichnen, und meine damit nicht das Genre bei Apple Music. An meinem Geburtstag war ich lange alleine. Diese Playlist zu erstellen hat mich glücklich gemacht. Kein Song ist dort ohne Grund festgehalten. Ich habe manchmal eher auf den Titel des Songs geachtet, das hat am meisten Spaß gemacht.

Nach ein paar Minuten spazieren und der Erkenntnis, dass ich jetzt den deutschen Pass besitze, musste ich daran denken, dass ich ja jetzt auch wählen darf. Und dass meine Stimme auch gezählt wird. Das letzte Mal habe ich 2009 im Iran gewählt. Die Stimmen von uns wurden eigentlich nicht gezählt, denn das Ergebnis war bereits entschieden.

Außerdem musste ich daran denken, dass ich jetzt deutlich einfacher reisen kann. Als Iraner ist Reisen nicht einfach. Der iranische Pass ist Dank der Regierung und deren Außenpolitik ziemlich wertlos geworden. Spontanes Reisen kann man vergessen und in viele Länder kommt man gar nicht erst rein. Das ist auch der Grund, warum ich noch nie in London, New York oder Tel Aviv war. Und trotz deutschem Pass stehen die Chancen auf eine USA- oder Israel-Reise für mich weiterhin schlecht, besonders seit Trump Präsident ist. Deswegen schätze ich Deutschland und Europa umso mehr. 

Während ich mir überlegt habe, wohin ich mit meinem deutschen Pass als erstes hinreisen würde, kam ich auf eine dumme Frage: „Was antworte ich, wenn mich jemand im Ausland fragt, wo ich herkomme?“. Darauf gibt es eine kurze „sachliche“ Antwort, doch diese Frage beschäftigte mich trotzdem. Wie sehe ich mich selbst und womit identifiziere ich mich? Identifiziere ich mich überhaupt mit einer der beiden Nationalitäten so richtig? Ich wurde oft gefragt, woher ich komme und somit direkt in eine Schublade gesteckt. Vielleicht möchten Personen auch genau deshalb nicht gefragt werden, woher sie kommen. Einen großen Teil meines Lebens habe ich in Teheran gelebt, und lebe nun in Stuttgart, war aber auch eine lange Zeit in Europa unterwegs. All die Menschen in meinem Umfeld haben mich inspiriert. Alle, die ich kennenlernen durfte. Durch meine Reise habe ich aber auch vieles über Fehler von anderen Menschen gelernt.

Im Iran gibt es ein Sprichwort:

Adab raa as ke aamuchti? As Biadaban.   .ادب را از که آموختی؟ از بی ادبان
                                                                                                                                                       
Was so viel bedeutet wie: Von wem hast du deine Manieren gelernt? Von den Unanständigen.

In Deutschland darf ich sein wie ich bin. Deswegen schätze ich die Chance, die ich hier bekommen habe, besonders. Ich sehe es als eine zweite Chance. Darüber „Wer ich nicht bin oder nicht sein möchte“, könnte ich ein Buch schreiben, aber die Frage danach „wer ich bin“ ist für mich nicht so leicht zu beantworten. In meinem Schrank hängen zwar ein paar Iran Trikots, aber noch mehr Deutschland Trikots. Am meisten aber identifiziere ich mich mit meiner Cap mit den Europa Sternen darauf. Iran und Deutschland sind beide Teil meiner Identität, doch wenn ich in mich gehe, identifiziere ich mich am meisten mit Europa. 
Vor allem in Europa erleben wir aktuell Zeiten, in denen viele Menschen es sich leisten können in eine Großstadt zu ziehen, ihren Instagram-Feed einmal auszusortieren, und von vorne anzufangen. Warum interessiert es uns dann immer noch so brennend, wo die Eltern oder Großeltern von jemandem „ursprünglich“ herkommen? Warum ist es in einer derartig vernetzten Welt überhaupt so wichtig wo ich herkomme?

Mittlerweile bin ich zuhause, also in Stuttgart-West, in meiner Wohnung angekommen und möchte mich nicht länger mit der Frage auseinandersetzen.

Ich erzähle viel lieber darüber, wo ich hinmöchte.


Text: Saeed